WOJTEK BLECHARZ & SARA GLOJNARIC
Sie sind ein ungleiches Doppel. Auf den ersten Blick jedenfalls. Wojtek Blecharz entwirft auf der Suche nach neuen Arten des Musikerlebens sowohl Opern, in denen nicht gesungen wird, als auch Sinfonien, die zum Teil für Amateure ausgelegt sind. Sara Glojnarić hingegen braucht Virtuosen. Selbst hochtrainierte Spezialist*innen überwältigt sie mit Werken, die an die Grenzen gehen. Laien haben bei ihr keine Chance, bis jetzt zumindest.
– von Martina Seeber –
Auf den zweiten Blick verbindet Glojnarić und Blecharz viel. Nicht nur der Aufenthalt in Positano an der Amalfiküste, der sie nach den Lockerungen der Coronarestriktionen zusammenbrachte. Dass Politik, Gesellschaft und die Arbeit mit unterschiedlichsten Medien in den Werken beider eine zentrale Rolle spielen, erschließt sich in den feministischen Videoarbeiten von Sara Glojnarić ganz unmittelbar. Wenn sie dabei ultrakonservative frauenfeindliche Medienwirklichkeiten in ihr Gegenteil verkehrt, bedient sie sich derselben manipulativen Mittel wie ihre Gegner. #popfem (die Abkürzung des Serientitels steht für popular feminism) lebt vom Kontrapunkt der Botschaften und zugleich von den gezielt musikalisch gestalteten Rhythmen und Geschwindigkeiten der Filmschnitte.
Im extrem verdichteten, homogenisierten und so gut wie immer lauten Klangbild ihrer Werkreihe sugarcoating spiegelt sich – vielfach gebrochen – die Entwicklung der Popmusik. Popmusik, so die Komponistin, ist über die Jahrzehnte nachweislich kontinuierlich lauter geworden, ihr Klangbild hat sich dem Gebrauch von Kopfhörern angepasst, die Stile haben sich vereinheitlicht. Das Klarinettentrio sugarcoating #2 – ein rasant geschnittener, virtuoser Extremparcours – und sugarcoating für Ensemble verkörpern genau genau das. Die „Zuckerglasuren“ sind laut, dicht und atemlos. Darin steckt jedoch keine Wertung der popästhetischen Entwicklungen, sie verkörpern „weder eine Ode an die Popkultur, noch eine Kritik“, unterstreicht die Komponistin, die erst spät zur klassischen Musik kam. Ohne das Wissen um die Hintergründe ist es allerdings schwer bis unmöglich, eine solche Musik auf die Studien zur Entwicklung des Pop zurückzuführen.
Viel direkter ist die Verbindung in den ersten beiden Kompositionen der Serie Artefacts. Sara Glojnarić stellte darin die Frage nach der Nostalgie und zitierte Fragmente der Popgeschichte. Im Mittelpunkt von Artefacts #3 steht nun mit Ludwig van Beethoven eine alte Ikone der Hochkultur. Aber auch hier ist die Auseinandersetzung mit dem Fetischcharakter das Zentrale. Ganz konkret in den Textprojektionen, in denen die Komponistin eine Auswahl selbstkritischer Aussagen des alten Meisters mit ihrer eigenen Selbstkritik alternieren lässt. Dem Ensemblepart liegt kein Originalmaterial von Ludwig van Beethoven zu Grunde, nur das Audiozuspiel besteht aus Zitaten, die allerdings in so kleine Fragmente geschreddert sind, dass Rückschlüsse kaum möglich sind. Die gedankliche Durchdringung des Materials prägt die Musik von Sara Glojnarić von Grund auf. Aber es gibt auch eine Dimension, die ohne Metadaten unmittelbar anspricht: die Lust an der Herausforderung der Musiker*innen zu körperlich-geistigen Höchstleistungen durch schnelle Schnitte, extreme Stauchungen und Beschleunigungen.
Bei Wojtek Blecharz stehen die Musiker*innen – zumindest nach Außen hin – unter weniger Druck. Zugleich leben seine Kompositionen zu einem hohen Grad von der physischen Präsenz der Performer*innen. Der ehemalige Oboist, der von der Alten Musik zur Komposition kam, choreographiert Gesten, er verwandelt Bewegungen in Musik und umgekehrt, seine Musik atmet und fließt. Die Partituren beschreiben Energieflüsse und lassen oft Raum für gelenkte Improvisationen. In Stimm[i](u)ng für zwei umgekehrte Celli und vier Instrumente ist der Part der beiden unisono spielenden Celli ausnotiert, während das kleine Ensemble aus zeitlich gestaffelten Modulen atmosphärische Räume schafft.
Auch im zweiten Satz seiner Symphony #2 umgibt Blecharz den ausdifferenzierten Solopart der Violine mit einer einfacher strukturierten Begleitung auf Blockflötenmundstücken, die auch von Laien zu spielen sein soll. Blecharz versteht die Gattung im griechischen Wortsinn von „sýmphōnos“ als Zusammenklang und zugleich als einen „Raum, der den Dialog zwischen den Teilnehmenden und dem Klang aktiviert. Als einen Ort, an dem Klang ganzheitlicher erfahren werden kann“.
Auch die Gattung der Oper unterzieht er einer praktischen Untersuchung und Neudeutung: als Multimediakunstwerk, begehbare Installation, Raum für Partizipation und Immersion. Eine Ahnung davon vermitteln die beiden Fragmente aus der für den öffentlichen Raum entworfenen Park-Opera und aus Opera Fiasko, letztere ein Gesamtkunstwerk über den Verlust der Stimme. Das Sextett für Schallplattenspieler aus dieser fehlgeschlagenen Oper (so lässt sich der Titel übersetzen) ist eine Hommage an John Cages Europeras.
Wie Cage wirft Wojtek Blecharz grundsätzlich Fragen auf, die weit über Parameter wie Intervalle, Rhythmus oder Tonhöhen hinausreichen. Ein Beispiel dafür ist ocean is not enough für Ensemble. Hier geht es „nicht darum, was wir hören können, sondern um das, was wir nicht wahrnehmen können“. In dieses Spiel der Erwartungen und Phantasien ist auch der Dirigent eingebunden. Der Part ist eigens für Enno Poppe entstanden, der das Werk hier zum ersten Mal selbst aufführt.
Im künstlerischen Nachdenken über Ästhetik, Politik und kulturelle Fetische bis hin zum Akt des Musizierens und Wahrnehmens sind sich Wojtek Blecharz und Sara Glojnarić nah. Aber nicht nur im Nachdenken und damit in den Metainformationen ihrer Kompositionen. Ihre Werke erschließen sich auch ohne Kommentare. Beim Hören, Sehen und Mitfühlen.