Julia Mihály (2019)

juliamihaly.net

Biografie

Julia Mihály bewegt sich als Komponistin und Sängerin an den Schnittstellen von Neuer Musik, Performance Kunst und elektroakustischer Musik.
In der Tradition Technologie-basierter Per- formance stehend, verwendet sie live-elektronische Klangsynthese-Prozesse als szenische Inszenierungsmittel. Dabei wird der Computer zum interaktiven Kammermusikpartner und der Körper zur auskomponierten Projektionsfläche. Sie setzt sich mit gesellschaftspolitischen Themen der aktuellen Alltags- und Medienkultur auseinander und verbindet diese ästhetisch mit Einflüssen aus Popkultur, Trash und Anti-Kunst.
Julia Mihály studierte klassischen Gesang und Elektronische Komposition an der Hochschule für Musik Theater und Medien Hannover. Sie war bisher auf verschiedenen internationalen Festivals und Konzertreihen für Neue Musik zu Gast, z.B. beim Heroines of Sound Festival in Berlin (RADIALSYSTEM V & Berghain), Suntory Hall Tokyo, La Biennale Musica di Venezia, Ruhrtriennale, SPOR Festival Arhus, Zeitkunst Festival Rio de Janeiro, Opernfestspiele der Bayerischen Staatsoper, Sound and Music Computing Conference (SMC), NTU CCA Centre for Contemporary Arts Singapore, TEMPO REALE Florenz. Für 2018 erhielt sie u.a. Kompositionsaufträge vom Deutschlandfunk, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain. 2019 werden Uraufführungen von ihr unter anderem im Rahmen der Tonlagen – Dresdner Tage zeitgenössischer Musik in Hellerau sowie der KunstFestSpiele Herrenhausen zu hören sein.
Julia Mihály unterrichtet das Fach „Komposition und Technologie“ an der HfMDK Frankfurt.

Biography

Julia Mihály is a composer, performer and singer at the border of Contemporary Music, Performance Art and Electroacoustic Music, based in Frankfurt/Germany.
Standing in the tradition of technology-based performance, her compositions involve realtime sound synthesis processes to extend and modulate vocal and instrumental sounds and to connect sounds and performative movements. Therefore she uses different kinds of controllers like gaming devices, motion sensors and hacked toy instruments. In this setting the computer turns into an interactive chamber musical partner. Emphasising sociopolitical issues of everyday life and media culture her multiamedia performances are aesthetically located in the framework of pop, trash and anti-art.
Julia Mihály studied classical singing and electronic composition Hanover University of Music, Drama and Media (HMTM Hannover). She performs regularly at festivals and in concert serieses for contemporary music such as Heroines of Sound Berlin, Suntory Hall Tokyo, La Biennale Musica di Venezia, Ruhrtriennale, SPOR Festival Arhus, Zeitkunst Festival Rio de Janeiro, Opernfestspiele of the Bavarian State Opera Munich, Sound and Music Computing Conference (SMC), NTU CCA Centre for Contemporary Arts Singapore and TEMPO REALE Florence. For 2018 she received composition commisions by Deutschlandfunk, Bayerische Akademie der Schönen Künste and Kulturfonds Frankfurt RheinMain. In 2019 her works will be premiered at Tonlagen – Dresdner Tage zeitgenössischer Musik in Hellerau and at KunstFestSpiele Herrenhausen.
Julia Mihály is currently teaching „Composition and Technology“ at the Studio for Electronic Music and Acoustics (SELMA) of the HfMDK Frankfurt.

Aufenthalte Positano

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Mein Aufenthalt in Positano war zweigeteilt. Zuerst war ich im Juli 2019 dort und dann noch einmal im Oktober des gleichen Jahres. Dadurch konnte ich den kleinen Ort an der Amalfi-Küste zu zwei sehr unterschiedlichen Jahreszeiten kennenlernen.
Die Wilhelm-Kempff-Villa erstreckt sich mit mehreren Wohnungen über einen ganzen Berghang. Zu jeder Wohnung oder „Casa“, wie sie genannt werden, gehört ein Balkon. Egal ob im Sommer in der Casa Rosa oder im Herbst, weiter oben am Berg in der Casa Orfeo: Als Arbeitsplatz wählte ich meistens den Balkon. Je nach Tageszeit boten sich mir dort die besten Arbeitsbedingungen. Immer mit Blick aufs Meer. Zwar gab es in jeder Wohnung ein gut eingerichtetes Arbeitszimmer, allerdings zog es mich zum Nachdenken und Arbeiten immer wieder nach draußen.
Wenn ich zurückdenke, ist der Blick aufs Meer eine der prägendsten Erinnerungen an meinen Aufenthalt in Positano.

Das Leben dort in der Villa am Berg ist sehr ruhig. Bis auf vormittägliches Hupen von Reisebussen und abendliches Party-Gelächter und Techno-Musikfragmente von den zahlreichen Yachten, die vor Positano Halt machen, gibt es kaum Geräusche aus der näheren Umgebung. Es gibt keine urbane Klangkulisse. Vor allem nicht so eine, wie ich sie in meinem normalen Arbeitsumfeld in Frankfurt am Main gewohnt bin. Stattdessen: Stille. Und das Meer. Jeden Tag das Meer mit ein paar langsam vorbei gleitenden Schiffen. So langsam, dass man fast meinen könnte, den Punkt von zeitlichem Stillstand zu treffen. Als würde man einen Béla-Tarr-Film schauen. Die gleiche Langsamkeit. Das gleiche Gefühl vom Vergehen der Zeit. Eine ähnliche Ereignisdichte. Nur alles in Farbe statt schwarz-weiß. Und der Film endet nicht nach 4 bis 7 Stunden, sondern geht jeden Tag weiter und man selbst sitz mitten drin.

Ich glaube, für Menschen, die gerne alleine sind und sehr viel Ruhe zum Arbeiten und Komponieren brauchen, ist Positano ein Paradies. Für mich persönlich war dieser Zustand des Stillstandes, des auf sch selbst zurückgeworfen seins herausfordernd.

Das Kontrastprogramm zum Alltag auf dem Berg ist der Ortskern von Positano. Mit Schiffen und Bussen werden täglich internationale Touristengruppen nach Positano gebracht und durch die engen Gassen runter zum Strand geführt. Egal ob Sommer oder Herbst, unten im Dorf gestaltete sich mein Pilgern zum Supermarkt oft als Selfiestick-Slalom, während dem überwiegend russische und amerikanische Halbsätze und Wortfetzen an meinen Ohren vorbei rauschten. Je nach Weg blieb ich dabei manchmal im Stau von orientierungslos in Slowmotion mäandernder Touristen stecken. Wenn ich dabei im Dorf so etwas wie Alltagsstrukturen entdecken konnte, dann war es das alltägliche je nach Schiffs- oder Reisebusfahrplan gekoppelte An- und Abtransportieren von Besucherinnen, die all die kleinen Geschäfte mit zitronenbedruckten Mitbringseln abklapperten. Zitronen-Magnete, Zitronen-Socken, Zitronen-T-Shirts, Zitronen-Taschen, Zitronen-Schürzen, Zitronen-Handtücher, Zitronen-Fotos, Zitronen-Keramik, Zitronen-Pralinen und Limoncello. Und immer steht Positano darauf. An meinem letzten Tag machte ich einen Ausflug nach Capri. Dort genau dasselbe: dutzende von zitronenbedruckten Mitbringseln. Nur dass statt Positano Capri daraufsteht.

Zwischen Menschen-Leere auf dem Berg und anonymer Menschenüberfüllung im Dorf changierte mein Aufenthalt in Positano immer dann, wenn ich selbst keinen Besuch von zu Hause hatte. Eines hatten beide Aggregatszustände gemeinsam: Sie waren einsam. Entweder waren keine Menschen da oder nur Fremde, die den Ort als Tagesausflügler schnell wieder verließen. Recht schnell fehlte mir mein alltägliches Umfeld von vertrauten Menschen, die mich umgeben, Alltagsrituale, meine gewohnten Orte.

Das selbstgewählte Ziel für meinen Aufenthalt in Positano war, ein neues Stück für Ensemble Mosaik zu schreiben. Ich hatte vorab eine musikalische Grundidee, einen Startpunkt. Und einen Titel: Disappointment Diaries. Ein sowohl visuell als auch musikalisch sehr kleinteiliges Stück, das sich auf einen Zustand bezieht, in dem ich mich manchmal befinde: Gedanken- und Erinnerungssequenzen laufen zusammenhangslos vor meinem inneren Auge in wirren Kombinationen und rasantem Tempo ab. Die ungewohnte Entschleunigung und Ruhe in Positano war zwar einerseits anstrengend für mich, andererseits bot sie aber als Kontrast viel Raum, um mich genau auf das Gegenteil, nämlich das Wirre, Schnelle, Grelle, Bruchstückhafte zu konzentrieren, mit dem ich mich in den Disappointment Diaries auseinandersetzen wollte.

Als ich im Herbst nach Positano zurückkehrte, waren die Disappointment Diaries bereits uraufgeführt. Ein Ziel, das ich anstreben konnte, war also erstmal nicht da. So saß ich viel herum, wählte jeden Morgen einen anderen Sitzplatz zum Frühstücken auf dem Balkon, beobachtete die Ameisenstraßen, die Wege der vorbeiziehenden Schiffe, die Pfützen, die morgens immer noch mit Regenwasser vom Unwetter der vorherigen Nacht gefüllt waren. Am Ende des Aufenthalts kam ich dadurch allerdings auf eine neue Stückidee. Jeden Morgen nach dem Frühstück auf dem Balkon machte ich Audio- und Videoaufnahmen, die ich nun für eine audio-visuelle Installation verwenden werde, die im Rahmen des Frequenz Kiel Festivals 2020 gezeigt wird. Sie trägt den Titel Oh, das Universum, denken sie und bezieht sich auf einen Textauszug aus Sibylle Bergs Theaterstück Helges Leben: „Immer wollen sie zuletzt ans Meer, die Spinner. Wollen am Meer hocken, aufs Wasser glotzen, in den Himmel, das Rauschen der Wellen hören, die Luft beschmutzen mit ihren kleinen Gedanken. Oh, das Universum, denken sie, das hört ja wirklich nirgends auf, und dann gucken sie wichtig in die Luft, halten den Kopf schief… jaja, das Universum.“

Julia Mihály, Frühjahr 2020

Foto © Ela Mergels